Journalistentrainer Markus Feigl erklärt, wie Storytelling funktioniert. Was gute Geschichten zu guten Geschichten macht. Und wie Du sie ganz einfach selbst schreiben kannst.

Will uns die verarschen?“, dachte ich mir.

Ich war damals noch keine acht Jahre alt, aber am Wortschatz deutlich erkennbar: Arbeiterkind. Im Turnsaal meiner Volksschule fand eine seltene Abendveranstaltung statt. Rotkäppchen wurde als Theaterstück aufgeführt. Und meine Mutter ging mit mir hin.

Das Rotkäppchen – eine junge, ambitionierte Laiendarstellerin – war alleine auf der Bühne und tat so, als würde sie durch den Wald hüpfen. Ich war furchtbar gespannt, denn ich kannte das Märchen natürlich. Und gleich – das wusste ich – würde er kommen. Der große, böse Wolf. Oh, wie furchtbar würde ich mich wohl gleich fürchten, vor dem riesigen, haarigen, aggressiven Wesen, das gleich auf die Bühne hüpfen würde? Mit gefletschten Zähnen, trampelnden Schritten und begleitet von dem aufgeregten Plärren meiner Schulkolleginnen.

Und dann kam er … Nein, nicht der Wolf. Sondern der Moment, an dem ich mir dachte, die Regisseurin – die sich wohl mit der Schauspielerin und der Kartenabreißerin einen Körper teilte – wolle uns wohl verarschen. Denn der Wolf war nie zu sehen. Das Rotkäppchen blickte immer, wenn es vorgeblich mit ihm sprach, links oder rechts über den Bühnenrand hinaus und erzählte bloß, was es sah. Genauso machte die Darstellerin es auch mit der Großmutter und dem Jäger.

Die Kinder im Publikum waren nach einer Weile so gelangweilt, dass einige aufstanden und am Bühnenrand miteinander spielten; was das Rotkäppchen dazu veranlasste, aus der Rolle zu fallen und die Kinder zu beschimpfen. „Das ist ein Theaterstück! Da spielt man nicht! Setzt euch wieder hin!“

Eine Katastrophe.

Doch was war falsch gelaufen? Warum fühlten selbst wir kleinen Kinder, dass diese Produktion – ganz objektiv betrachtet – ein Schas war?

Bilder im Kopf

Eine der wichtigsten Regeln beim Storytelling lautet: Erzeuge Bilder im Kopf deines Zuhörers. Erst wenn die Sprache bildhaft ist, kann sich unser Leser etwas darunter vorstellen. Erst dann bleibt das Erzählte auch in Erinnerung. Wer keine Bilder erzeugt, macht den selben Fehler, wie die Drehbuchautorin/Kostümdesignerin/Beleuchterin/Schauspielerin in meinem Volksschul-Turnsaal. Natürlich wollten wir Kinder den Wolf sehen! Natürlich wollten wir die Action sehen. Den Jäger, wie er kommt, um die Großmutter und das Mädchen zu befreien. Und weil wir es nicht sahen – keine Bilder im Kopf hatten – haben wir uns gelangweilt. Uns unwohl gefühlt.

Bilder erzeugen wir durch die konkrete Beschreibung einer Sache. Und natürlich durch die richtigen Worte. Klar könnten wir von einem „Einrichtungsgegenstand“ oder von „Möbeln“ schreiben. Aber vorstellen kann sich unser Leser darunter nichts. Schreiben wir stattdessen „ein mahagonifarbener Holzschrank mit drei schmalen Türchen“, „ein senfgelber, durchgesessener Leder-Fauteuil“ oder „ein weißes Billy-Regal“, erzeugt das sofort Bilder. Oder hast Du Dir die Einrichtung nicht grade vorgestellt?

Wer diese Regel beherzigt, darf den nächsten Schritt wagen. Und der sieht bei mir so aus:

S = Z + I(a) + P + α/Ω

Keine Sorge. Niemand hasst Mathematik mehr (und versteht sie weniger) als ich. Aber diese Formel ist der Schlüssel zu einer guten Geschichte. Und Du solltest sie auswendig lernen. „S“ steht für eine gute Story. Und die besteht aus folgenden Variablen:

Z wie Zielgruppe

Bevor ich eine Geschichte plane, muss ich wissen, für wen. Schreibe ich für 13-jährige Schülerinnen, für 40-jährige Bauarbeiter, oder für Astrophysikerinnen unterschiedlichen Alters? Das hängt meist von dem Medium ab, in dem die Geschichte veröffentlicht werden soll. Und natürlich muss ich einen Text immer so schreiben, dass ihn die jeweilige Zielgruppe auch versteht. Auch wenn das Thema gleich bleibt. Ich frage mich also beim Schreiben stets: „Würde das die 13-jährige Melissa jetzt verstehen? Und interessiert sie das überhaupt?“ Und bei der Astrophysikerin frage ich mich: „Muss ich jetzt in einem Infokasten extra erklären, was der Advanced LIGO-Detektor genau macht, oder weiß die das eh?“ So stelle ich sicher, dass meine Leser weder über- noch unterfordert sind und sich bei der Lektüre wohlfühlen. Denn tun sie das nicht – und das gilt für jeden einzelnen Aspekt der Geschichte – steigen sie aus und lesen nicht weiter.

I(a) wie Intention des Autors

Was will ich mit dem Text überhaupt sagen? Auch das muss ich wissen, bevor ich anfange zu schreiben. Es muss eine Botschaft in ein oder zwei Sätzen sein. Wir nennen das im Journalismus den Küchenzuruf. Diesen Namen hat Henri Nannen geprägt, bevor der Feminismus bis zu ihm nach Hamburg durchgedrungen ist. Die Geschichte dazu kannst Du in der ersten Folge meines Irgendwas mit Medien-Podcasts hören.

Hast Du schon einmal einen längeren Artikel gelesen und Dich dann gefragt: Was hab ich da grad eigentlich gelesen? Worum ging es da jetzt? Ja? – Dann hatte er sicherlich keinen Küchenzuruf.

P wie Protagonist

Jede Geschichte braucht eine Heldin oder einen Helden. Das kann eine Person sein – und ist es im Idealfall auch – muss aber nicht. Ich habe zum Beispiel mal einen netten Dreiseiter über eine Venenklammer geschrieben, die ich auf ihrer Reise durch ein Krankenhaus begleitet habe. Aber irgendeinen Bezugspunkt braucht der Leser, um durch die Geschichte geführt zu werden. Und am besten eignet sich dafür eine spannende Person, mit der er sich identifizieren kann. 

α/Ω wie Anfang und Ende

Bevor meine Finger die Tastatur noch berühren, überlege ich mir, wie ich meine Geschichte beginne und wie ich sie enden lasse. Mache ich eine Klammer? Beziehe ich mich am Ende also wieder auf den Anfang? Steige ich reportagig ein? Beschreibe also, wie es dort aussieht, wo die Geschichte stattfindet. Oder doch lieber provokant? Mit einem Zitat? Oder einer direkten Frage an den Leser?

Schuhlöffel in die Geschichte

Diese Formel habe ich nicht erfunden, sondern von verschiedenen anderen Geschichtenerzählern übernommen und für meine Zwecke etwas abgeändert. Sie dient Dir als Schuhlöffel für gute Geschichten. Denn wenn Du sie beherzigst, brauchst Du Dir nur zu überlegen, wie Du die Variablen löst. Und dann brauchst Du die Leerstellen nur mehr aufzufüllen. Schreibblockaden gibt es für Dich dann nicht mehr. Denn Du weißt ja bereits im Vorhinein, was Du schreiben wirst.

Foto: Kurt Prinz

Nice, oder?

Markus Feigl ist Journalist und Dozent für Journalismus (u.a. an der Hochschule Ansbach, der Universität Augsburg und dem Kuratorium für Journalistenausbildung). Er gibt Seminare im Bereich Storytelling, journalistische Sprache, Social Media und Mobile Reporting. Er war Österreich-Korrespondent für Bild der Wissenschaft und produziert den Irgendwas mit Medien-Podcast. Hier der Link zur Folge mit Jelena.

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